Lieber Joshua Kimmich,
jeder andere wäre vor dem Ungarn-Länderspiel nach Hause gefahren, hätte sich pflegen lassen, hätte sich geschont für die nächsten zwei heißen Bayern-Wochen, wenn es am Freitag schon gegen Angstgegner Augsburg, am Dienstag in der Champions League gegen Paris, danach zum Gipfel nach Dortmund und schließlich im Pokal gegen Leverkusen geht. Es war echt ein kleines Wunder, dass Du dich beim Stande von 6:0 gegen Bosnien-Herzegowina (7:0) wg. eines Problems am Sprunggelenk hast auswechseln lassen. Denn für Dich gilt das ungeschriebene Gesetz: Ein Kimmich spielt immer, notfalls auch ohne Kopf (das ist nicht böse gemeint).
Seitdem Du am Samstag mit dem 96. Länderspiel die Bayern-Legenden Sepp Maier und Karl-Heinz Rummenigge überholt hast, mit der Gladbach-Ikone Berti Vogts gleichgezogen hast, ist nach einer depressiven Phase unter Trainer Thomas Tuchel, der Dich nicht als Leistungsträger sah auf der Sechs, der Hunger wieder ganz, ganz groß nach noch mehr. Welch Glück für Bundestrainer Julian Nagelsmann, auf einen Kapitän bauen zu dürfen, der heiß ist wie Frittenfett, auch wenn es nicht um besonders viel geht (der Gruppensieg ist sicher). Welch Glück für Bayern-Trainer Vincent Kompany, der jetzt in der entscheidenden Phase einen hat, der vorne wegmarschiert, obwohl er gerade in Vertragsverhandlungen steckt – oder gerade deshalb, obwohl man Dir nie vorwerfen konnte, sich hängen zu lassen. Hinter allem, was momentan passiert, steckt viel mehr als eine schnöde Vertragsverlängerung über 2025 hinaus.
Einer wie der 21-jährige Jamal Musiala beobachtet Dich ganz genau. Ihr beide habt Hansi Flick, als er mit Euch 2020 das Sixtuple gewann, so viel zu verdanken, dass man davon ausgehen kann, dass er mit Euch beiden wieder rechnet, mit Euch zusammenarbeiten will, dass Ihr euch das zumindest anhört. Euch beide im Paket, das möchte erst recht Florentino Pérez, der Präsident von Real Madrid, der 2025 eine sechste Amtszeit anstrebt und einen größeren Umbruch plant, wenn Leverkusens Trainer Xabi Alonso nach vier Jahren voraussichtlich Carlo Ancelotti ablösen wird. Egal, ob mit oder ohne Florian Wirtz, der wohl nicht zu einem schnellen Auslands-Wechsel neigt.
Musiala will sich bis Weihnachten entscheiden, ob er seinen bis 2026 laufenden Vertrag in München in einen langfristigen umwandeln will. Als Gesicht, wie man so schön sagt, des Rekordmeisters. Da könnte eine Verlängerung von Dir Sogwirkung für den Fast-Schon-Weltstar haben (dieses Kopfball-Tor zum 1:0 gegen Bosnien-Herzegowina war ein Kunstwerk, gehört in alle Lehrbücher). Genauso wie eine Verlängerung seiner Freunde Alphonso Davies und Leroy Sané. Du, lieber Joshua, Musiala, Davies und Sané in einem Boot, das sähe danach aus, als wäre der FC Bayern im Kern auf Jahre nicht mehr zu erschüttern. Torwart Manuel Neuer gehört sowieso irgendwie immer mit dazu. Er wird, wie auch Thomas Müller, selbst bestimmen, wann das mit den kurzen Hosen ein Ende hat.
Du bist also viel mehr als ein Kapitän oder ein Vize-Kapitän, lieber Joshua Kimmich. Mehr als das Gewissen dieser Mannschaft. Mehr als ein Wortführer. Mehr als eine Sechs oder ein Rechtsverteidiger. Da sind die Übergänge sowieso seit Monaten schon fließend. Du kannst noch viele Jahre Fußball spielen. Und es wäre schön, wenn Du weiterhin in einem roten Trikot steckst. Nicht in einem blaudunkelroten oder in einem weißen.